Die Wunderfrage von Steve de Shazer ist mittlerweile allen Coaches geläufig: „Stellen Sie sich vor, in der Nacht ist ein Wunder geschehen und Ihr Problem ist gelöst! Woran erkennen Sie, dass das ein Problem ist? Wie ist es zur Lösung des Problems gekommen?“

 

Problembestimmung

Vor mir steht ein zitterndes Häufchen Elend, genauer gesagt, ein zorniges, zitterndes Häufchen Elend. Das Elend heißt Verena. Sie ist sauer, stinkobersauer, megastinkobersauer! Sauer auf die Führungsriege ihres Projektes.

„Ich gehe nun zu dieser Oberflasche von Programmleiter und werfe ihm den Bettel vor die Füße. Soll er doch einen Idioten, wie er selbst einer ist, für den Job finden!“

Ich nicke, zeige, dass ich sie verstehe und dringe dann ein wenig unter die empfindliche, wabernde Oberfläche ihres mentalen Gerüstes vor. Das, was ich wahrnehme, erschreckt mich ein wenig. Die Fassade, die sie so bestimmt und hart hat sprechen lassen, ist nur sehr dünn und vor allem instabil. Ich frage sie, ob sie schlafen kann:

„Natürlich nicht! Ich schlafe seit Wochen nicht mehr durch und seit zwei Tagen überhaupt nicht mehr!“

Sie ist mental und körperlich ziemlich fertig und kurz vor dem Heulkrampf. Sie schimpft auf diesen und jenen und wie ungerecht sie doch behandelt wird.

Was kann ich tun, um erst einmal die ärgste Not zu lindern und Verena in einen Zustand zu bringen, der ein sinnvolles Arbeiten an den eigentlichen Problemen ermöglicht? Bei Verena scheint eine klassische Problemlage vorzuliegen, die sich mir immer wieder präsentiert: Sie fühlt sich alleine für das Gelingen des Projektes verantwortlich und gelingen tut das Projekt natürlich nur, wenn alle Aufgaben „richtig“ und nicht „falsch“ erledigt sind. Diese Kernproblematik steckt jedoch unter einer Schicht aus großer Frustration und noch mehr Schmerz!

 

Problem-Materialisierung

Ich wähle eine Vorgehensweise, die man vielleicht als räumliche Variante der berühmten „Wunderfrage“ von Steve de Shazer bezeichnen könnte: „Stell Dir vor, in der Nacht ist ein Wunder geschehen und Dein Problem ist gelöst! Woran erkennst Du, dass Dein Problem gelöst ist? Wie ist es zur Lösung des Problems gekommen?“

Sprachlich gesehen ist das eine „systemische“ Interaktion. Sie zwingt den Klienten dazu, die eigene, problembehaftete Perspektive zu verlassen und das Problem von außen und zeitlich getrennt zu betrachten. Sie muss die assoziierte „1st position“ verlassen und  eine disassozzierte „3rd position“ einnehmen. Die Frage von de Shazer sorgt über Sprache, also auditiv, für eine Lösungs­orientierung. Wie könnte man den Weg zur „Lösung“ nun kinästhetisch, also im dreidimensionalen Raum, darstellen?

Ich fragte Verena:

„Wenn das, was Dich gerade belastet und Dich wütend und enttäuscht sein lässt, ein Symbol oder ein Gegenstand wäre, was wäre das für ein Symbol oder ein Gegenstand?“

„Ein Amboss! Hässlich, groß und schwarz.“

„Wo im Raum ist dieser Amboss? Vor dir, hinter dir, rechts oder links?“

„Er steht direkt vor mir, da!“

Sie deutet auf einen Punkt direkt vor sich.

„Wie weit ist er ungefähr in Metern vor Dir entfernt …. und… wenn der Amboss Augen hätte, wo schauen die hin?“

Wieder deutet sie auf einen imaginären Punkt vor sich im Raum. Allerdings nun etwas höher.

„Er ist etwa eineinhalb Meter vor mir und die Augen starren mich an! Boah, ist der hässlich und duster!“

Was ich hier gemacht habe ist eine Anwendung der Mental Space Psychologie von Lucas Derks.[1] Der Amboss ist nun fest mit dem Problem verbunden und wir haben den Kontext aufgebaut, der mit dem schlechten Gefühl von Verena verknüpft ist.

Jetzt kommt die Besonderheit dieses „Wunderprozesses“. Es interessiert mich nicht, warum es ein Amboss ist oder warum sie sich schlecht fühlt.

„Warum? Warum? Warum?“

Diese Standardfrage löst kein Problem. Sie gibt nur eine statische Antwort, was die angebliche Ursache sein könnte. Man kann dann endlos fragen, was denn das Warum des Warum sei, bis an den jüngsten Tag und darüber hinaus. Viel effizienter ist es, das Problem im 3-dimensionalen Raum materialisieren zu lassen und dann zu fragen, wie das, „was der Fall ist“[2](Wittgenstein) miteinander verknüpft ist. Vielleicht könnte man sagen, ich arbeite mit der Form oder der Struktur des Problems und nicht mit dessen Inhalt.

 

Ressourcenaktivierung

Das Objekt, das bei Verena ein schlechtes Gefühl auslöst, ist also ein Amboss, der sich vorne in ihrem Blickfeld befindet. Nun frage ich nach der Verknüpfung von Amboss und Gefühl:

„Wie fühlst Du Dich? Wie ist das für Dich, wenn sich der Amboss vor Dir befindet?“

„Ich fühle mich mies und übel und habe einen bohrenden Druck in der Magengrube. Es drückt auch gegen den Solarplexus! Der Amboss behindert mich! Er steht mir im Weg!“

Nun sprenge ich ihren Denkrahmen, indem ich sie etwas frage, was sie sich vermutlich noch nie gefragt hat:

„Was ist hinter dem Amboss? Was verbirgt der Amboss vor Dir?“

„Was hinter dem Amboss ist? Keine Ahnung! Woher soll ich das wissen?“

Mit dieser Frage richte ich ihre Aufmerksamkeit neu aus! Weg von dem schlechten Gefühl, hin zu etwas Neuem. Ihr geht es augenblicklich besser. Dann weise ich sie an, sich vorzustellen, wie sie aus „der Verena“ heraustritt, so dass „die Verena“, die den Amboss vor sich hat, an derselben Position bleibt. Sie soll um den Amboss herumgehen, und bitte so, dass sie von „der Verena“ aus gesehen sich an die Stelle des Raumes begibt, die sich unmittelbar hinter dem Amboss befindet. Also an die Stelle, die „jenseits“ der Problemmanifestation ist.

Verena tritt mit einem deutlichen Schritt aus „der Verena“ aus und macht einen kleinen Bogen um die Stelle im Raum, an der sie den Amboss materialisiert hat, herum. Ich begleite sie dabei, indem ich sie am Arm berühre und mit ihr mitgehe. Hinter dem Amboss angekommen, bitte ich sie die Augen zu schließen und sage:

„Verena, du bist jetzt auf der anderen Seite des Ambosses und „die Verena“ steht da hinten. Korrekt?“

Sie bestätigt meine Aussage.

„Verena, was nimmst Du an dieser Position mit Deinen Sinnen wahr? Wie fühlst Du Dich hier?“

Oft fühlen sich die Klienten an der Stelle jenseits  von ihrem Hindernis bereits richtig gut. Ab und zu, wie es sich jetzt bei Verena herausstellt, ist es hier noch nicht okay:

„Es ist stockdunkel hier! Ich sehe gar nichts. Es fühlt sich eng an.“

„Was hörst Du? Was spürst Du?“

„Huch! Ich stehe in einer Aufzugkabine! Die Wände sind aus Metall und kühl!“

Auch wenn die Assoziationen der Klienten manchmal überraschend sind, gilt es, diese einfach an- und ernst zu nehmen. Wenn die Klientin in einem Aufzug landet, nimmt man als Coach diese Landkarte an und arbeitet mit dieser.

Es scheint so zu sein, dass die Geruchs- und Geschmacks­rezeptoren am direktesten mit dem limbischen System im Gehirn verknüpft sind. Deswegen ist es interessant zu erfahren, ob es hier  „schlechte“ Sinneswahrnehmungen gibt.

„Was riechst Du, wenn Du in dieser Aufzugkabine drinnen bist? Hast Du einen besonderen Geschmack im Mund?“

Verena sagt, dass der Geschmack neutral ist, aber die Luft muffig riecht. Ich bewege mich weiter auf Verenas Landkarte.

„Wo ist die Tür? Kannst Du die Aufzugskabine verlassen?“

Verena dreht sich etwas zur Seite.

„Ja, da ist eine Tür. Die Tür ist aber zu! Ich kriege sie nicht auf!“

Ich antworte mit präziser Unschärfe:

„In jeder Aufzugkabine gibt es Knöpfe und Schalter! Versuche die Tür zu öffnen!“

„Die Tür öffnet sich einen Spalt!“ sagt sie angestrengt.

„Mach weiter! Öffne die Türe!“

Verena schnauft laut: „Ich habe es geschafft! Die Tür ist auf!“

„Bitte verlasse die Aufzugkabine und gehe nach draußen! – Was ist da?“

Verena macht zwei Schritte im Raum.

„Da ist eine Landschaft! Ich stehe in einer Wiese! Da sind Blumen! Es duftet gut! Es ist wunderschön hier!“

Ich lasse Verena ein wenig, in ihrem offensichtlich schönen Erleben, verweilen.

„Verena, wie fühlst Du Dich an diesem Ort?“

„Mir geht es gut! Ich empfinde Freude … Freiheit … Ruhe!“

„Wie möchtest Du die Summe aus den einzelnen Gefühlen bezeichnen? Gib mir einen Begriff dafür.“

„Hmmmm … ich bin bei mir … hmmmm … ich bin zentriert und geerdet!“

„Du bist hier zentriert und geerdet, das erfüllt Dich mit Freude. Das ist ein gutes Gefühl – korrekt?

„Ja, mir geht’s gut!“

„Kann es sein, dass die Verena da hinten – hinter dem Aufzug und dem Amboss – dieses Gefühl nicht hat, aber brauchen würde?!“

Verena seufzt auf und bestätigt:

„Oh ja, das stimmt!“

Wir haben nun in sehr kurzer Zeit herausgefunden, welche Ressource „der Verena“ in ihrem Problemzustand fehlt. Diese Methode arbeitet ausschließlich mit Emotionen im Raum. Sie braucht kein Herausarbeiten von Logik oder Motivation (positive Absicht).

 

Problembewältigung

Nun utilisiere ich dieses Gefühl der „Zentriertheit“ und des „Geerdet seins“ als Ressource in Form einer Energie, welche „die Frau auf der Blumenwiese“ im ganzen Körper spürt. Mein Coachee bestimmt die Farbe der Energie – in diesem Fall „rot“. Dann bitte ich sie, diese Ressource in Form eines dicken roten Energiestrahls durch den Aufzug, durch den Amboss in „die Verena“ hinein strömen zu lassen. Die Energie durchströmt „die Verena“ und erfüllt den ganzen Körper!

„Lass es wirken … und nimm wahr, was sich verändert, … während die rote Energie strömt … und strömt … was passiert? “

Verena ruft verwundert: „Der Amboss zerspringt in lauter Teile!“

„Lass die rote Energie weiter strömen … zentriert sein … geerdet sein … Was geschieht weiter?“

„Die Ambossteile werden kleiner – sie lösen sich auf – sie wandern zur Seite!“

Ich bitte Sie nun, den Platz auf der Blumenwiese zu verlassen, während die Energie weiter strömt, und mit der Energie zur Verena zu „strömen“, und mit dem Gefühl der Zentriertheit und dem Gefühl des Geerdet-Seins in „die Verena“ hinein zu fließen und dann zu ihr zu werden. Wie Verena den Raum „durchflossen“ hat und wieder die Position und den Blickwinkel ihrer ursprüngliche Perspektive eingenommen hat, frage ich sie wieder, was sich verändert habe.

„Ich fühle mich frei. Der Druck ist weg. Es ist angenehm warm auf Höhe des Herzens!“

Das, was vom Amboss übrig ist, schwebt rechts von ihr in der Luft. Ich frage sie, wie ihr Gefühl gegenüber den Problemresten ist. Sie sagt, dass es sich neutral anfühlt, es ihr schlicht „egal“ sei.

 

Nachhaltigkeit

Ich prüfe noch die Nachhaltigkeit der Lösung nach dem All-Quadrants-all-Levels-Modell (AQUAL) von Ken Wilber, indem ich prüfe, ob es „der Verena“ (1st position) nun gut geht oder ob sie noch etwas brauchen würde. Sie sagt, alles sei gut. Ich will auch wissen, ob es den Amboss-Resten (2nd position) an ihrer neuen Position auch gut. Auch hier ist alles paletti. Weiter checke ich, ob ein Beobachter von außen (3rd position) die neue Konstellation als „in Ordnung“ empfindet. Als ich sie hoch oben auf einem imaginären Mond (4th position) platziere, um das Gesamtsystem inklusive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erleben, stört etwas. Verena bekommt noch eine weitere Ressource übermittelt, der Check aller Perspektiven wird wiederholt und nun ist die Lösung aus jedem Blickwinkel angemessen und gut!

Verena fühlt sich nun entspannt und frei!

Mit diesem guten Gefühl schicke ich sie auf einen Spaziergang rund um das Gebäude. Das war für diesen Moment auch anstrengend genug. Sie soll alleine gehen und möglichst nicht mit anderen sprechen. Verena trabt etwas erschöpft und mit heiterer Miene davon.

 

Fazit

Ist das Problem nun „endgültig“ gelöst? Nein, aber sie kann nun wieder schlafen und in den nächsten Tagen werden wir dann weiter herausfinden, was Verena dazu bringt, alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Dann geschieht vielleicht ein anderes Wunder. Was Steve dazu wohl sagen würde?

 

 

 

[1] Derks, Lucas: Das Spiel sozialer Beziehungen – NLP und die Struktur zwischenmenschlicher Erfahrung. Mit einem Geleitwort von Wolfgang Walker. Klett-Cotta, Stuttgart (2000)

[2] aus Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein. „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.“